„...das machte mich so froh, so zufrieden, so vergnügt, daß es auf einmal wieder ging...“
Komponieren ist Brahms nie leicht gefallen. Wie sollte es auch? Der gerade einmal Zwanzigjährige war in Robert Schumanns letztem Aufsatz "Neue Bahnen" mit Vorschusslorbeeren bedacht worden, die auch weniger skrupulöse Naturen als ihn unter erheblichen Druck gesetzt hätten: "Ich dachte ..., es würde und müsse ... einmal plötzlich Einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre, einer, der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern, wie Minerva, gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte des Kronion spränge. Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg ..."
Zu Zeiten des Historismus, ab Mitte des 19. Jahrhunderts, verlor das Komponieren endgültig seine Leichtigkeit und Naivität – wenn es sie denn je besessen hatte. Kein Komponist vor Brahms hatte je über eine ähnlich umfassende Repertoirekenntnis verfügt. Zu seinen Lebzeiten wurden die großen wissenschaftlichen Ausgaben der Werke Bachs, aber auch Palestrinas und vieler älterer Meister in Angriff genommen, auch er selbst betätigte sich immer wieder als gewissenhafter Herausgeber. Erstmals entstand die Konzeption eines vermeintlich zeitlosen Kanons der Großen Musik, dem auch Werke angehörten, die zum Teil Jahrhunderte alt waren: für Brahms Quelle vielfältiger Anregungen, zugleich immer wieder Grund tiefster Selbstzweifel. Hatte schon Schubert geklagt: "Wer vermag nach Beethoven noch etwas zu machen?" – um wie viel stärker musste die Verpflichtung, die sich aus solchem Erbe ergab, auf Brahms lasten.
Nicht wenigen seiner Kompositionen ist die Anstrengung anzumerken, die es ihn kostete, sich angesichts aller Meisterwerke der Vergangenheit überhaupt mit eigenen Schöpfungen zu behaupten. "Wie Minerva, gleich vollkommen gepanzert" – Schumanns Worte enthielten einen prophetischen Doppelsinn, von dem der Verfasser noch nichts ahnen konnte: Der Zwang zu ihrer Rechtfertigung lässt manche Stücke gerade des frühen Brahms zu Bastionen geraten, die ihr kompositorisches Arsenal gleichsam in Reih und Glied präsentieren, um vor sich selber und vor der Welt bestehen zu können. In diesem Sinne war Brahms ein eminent deutscher Komponist: Stringenz galt ihm mehr als Charme.
Es ist nicht überraschend, dass sich einem so selbstkritischen Komponisten beizeiten die Frage stellt, wie lange er solche Anspannung noch auf sich nehmen wolle und könne. Brahms hat sich mehrfach, und jedesmal vermeintlich endgültig, vom Komponieren verabschiedet. Erstmals äußert er 1890/91 nach Vollendung des 2. Streichquintetts op.111, er sei erschöpft, es sei "Zeit aufzuhören". Seinem Freund Eusebius Mandyczewski gesteht er mit ergreifender Offenheit:
„Ich hatte in der letzten Zeit Verschiedenes angefangen, auch Symphonien und Anderes, aber nichts wollte recht werden; da dachte ich, ich wäre schon zu alt, und beschloß energisch, nichts mehr zu schreiben. Ich überlegte bei mir, ich sei doch mein Lebtag fleißig genug gewesen, hätte genug erreicht, hätte ein sorgenloses Alter und könne es nun ruhig genießen. Und das machte mich so froh, so zufrieden, so vergnügt, daß es auf einmal wieder ging.“
Wie immer, wenn Brahms über sein eigenes Schaffen spricht, drückt er sich abwiegelnd und vorsichtig aus. Nicht nur "ging es wieder", sondern es ging müheloser als je zuvor. Die entlastende Einsicht, dass er sich und anderen nichts mehr beweisen muss, führt ihn zu einer bisher unbekannten Freiheit. Ein Zustand der Gnade ist erreicht: Die Noten fügen sich gleichsam von selbst, keine Spur mehr von Gewalt. Arnold Schönberg findet dafür in seinem Aufsatz "Brahms, der Fortschrittliche" die – auf ihn selbst nicht weniger als auf Brahms gemünzten – Worte:
"Die Menschen wissen im allgemeinen nicht, daß Glück ein Geschenk des Himmels ist, von gleichem Rang und gleicher Art wie Begabung, Schönheit, Stärke etc. Man erhält es nicht umsonst, im Gegenteil, man muß es verdienen. Skeptiker könnten versuchen, dies lediglich als einen ›glücklichen Zufall‹ zu verharmlosen. Solche Menschen schätzen sowohl Glück als auch Inspiration falsch ein und sind nicht imstande, sich vorzustellen, was beide zu vollbringen vermögen."
Diese späte Musik, die schon "fast nicht mehr hatte sein sollen"1)
ist wirklich ein Glück: In ihrer Faktur keinesfalls weniger anspruchsvoll als irgendeine frühere, hat sie es nicht mehr nötig, eben dies zu demonstrieren. Wie der erste Brahms-Biograph Max Kalbeck bemerkte, beginnt der letzte Satz der Klarinettensonate op. 120/1 wie eine Doppelfuge, mit den wiederholten halben Noten als erstes, der Kette der Achtelnoten, die sogleich mit ihrer Umkehrung kombiniert werden, als zweites Thema. Aber – diese Doppelfuge muss nicht mehr geschrieben werden! Brahms reicht die Anspielung darauf, um humoristisch die einmal geweckten Erwartungen zu enttäuschen, ohne andererseits die anfängliche Konstellation je aus dem Blick zu verlieren.
Kanonische Fortschreitungen sind beinahe omnipräsent, aber mit einer seit Johann Sebastian Bach unerreichten Eleganz und Leichtigkeit der Stimmführung so diskret gehandhabt, dass sie beim Hören, und selbst beim Lesen, kaum auffallen.
Hier nur einige wenige Beispiele, die nach Belieben fortgesetzt werden könnten: Das ganze Intermezzo op.118/4 ist als Kanon konzipiert, meist rectus zwischen Sopran und Tenor angelegt, nur von Takt 16-35 (track 8, 0’16’’-34’’) inversus; die Coda von op.120/1/I (tr.1, 6’36’’) beginnt als neun Takte langer, strenger Umkehrungskanon zwischen Klavier-Oberstimme und Klarinette; was als burlesker Forte-Kontrast des Klaviers zum graziösen Piano-Hauptthema der Klarinette von op.120/1/III daherkommt (tr.3, 0’21’’), ist erfunden als Gegenstimme zur Umkehrung des Anfangsthemas (wiederum in der Klarinette), die ihrerseits nach zwei Takten kanonisch imitiert wird; das zweite Thema von op. 120/2/I (tr.11, 0’55’’) ist ein sechstaktiger Kanon zwischen Klarinette und Klavier-Bass. Kontrapunktische Formen bestimmen auch größere Abläufe; so ist der erste Abschnitt des Intermezzo op.118/6 in unverkennbarer Analogie zu einer Fugenexposition mit abschließenden Engführungen angelegt – was man in dieser Studie der schwarzen Melancholie am wenigsten erwarten würde.
Wenn all diese kontrapunktischen Künste unter der Oberfläche, im Verborgenen, stattfinden, so bedeutet dies nicht, dass sie artistischer Selbstzweck sind. Vielmehr dienen sie dazu, den Sätzen größtmögliche organische Einheit zu sichern, bei den kleinsten Bausteinen angefangen. Die Ecksätze von op.120/2 sind virtuose Beispiele dafür: Im Verlauf des ersten Satzes kristallisiert sich immer mehr heraus, dass die ersten drei (oder vier) Töne der anfänglichen Klarinettenmelodie es"-d"-f"(-es") bereits die Quintessenz des ganzen Satzes enthalten. Die Coda (tr.11, 6’52’’) zieht durch strikte Reduktion auf eben diese Figur, wiederum mit ihrer Umkehrung kombiniert, das Fazit. Ganz ähnlich, aber noch radikaler der letzte Satz: Er geht von derselben Dreiton-Figur aus, transponiert sie, kehrt sie um und fügt einen Dreiklangston hinzu: b'-c"-as'-f'. Das scheinbar so naive und schlichte Variationsthema ist fast ausschließlich aus Permutationen und Krebsumkehrungen (tr.13, 0’9’’) der Anfangsfigur konstruiert.
"Es ist die wichtigste Fähigkeit eines Komponisten, einen Blick auf die entfernteste Zukunft seiner Themen und Motive zu werfen. Er muss imstande sein, die Folgen der in seinem Material existierenden Probleme im Voraus zu kennen und alles dementsprechend zu organisieren."
Schönbergs Worte über Brahms' Prozeduren sind, wie bereits angedeutet, zugleich als Aussage über sein eigenes Komponieren zu lesen. überraschend an seinem Essay ist, dass er "Brahms, den Fortschrittlichen" ausführlich an seiner Harmonik, seinem oft unregelmäßigen Phrasenbau exemplifiziert, also an Parametern, die für Schönberg kompositionstechnisch bereits historisch sind – während die extreme Konzentration der Mikrostrukturen wie zum Beispiel in op.120/2 in ihrer ähnlichkeit zur Zwölftontechnik unerwähnt bleibt. Gerade der späte Brahms mit seiner polyphonen Durchdringung des Tonsatzes war vielleicht aktueller, als Schönberg zugeben mochte. Schon rein optisch wirken manche seiner dodekaphonen Partituren wie "Brahms mit anderen Noten". Mir scheint selbst im Variationssatz aus Anton von Weberns Symphonie op.21 noch eine konzeptionelle Verwandtschaft zur Variationstechnik in Brahms' zweiter Klarinettensonate erkennbar. Hierin liegt das Einzigartige der Musik des späten Brahms: Während ihr Tonfall geprägt ist von nostalgischem Rückblick auf Jahrhunderte Musikgeschichte, weisen sie zugleich weit in die Zukunft.
© ANDREAS STAIER
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1)Peter Gülke, "Verspätete Monologe – Brahms' Klavierstücke op. 116, 117, 118 und 119", in: Fabrice Fitch / Jacobijn Kiel (Hrsg.), Essays in Renaissance Music, in honour of David Fallows, Woodbridge (The Boydell Press) 2011, S. 300–306
1767 erhielte ich die Vocation nach Hamburg, als Musikdirektor an die Stelle des seligen Kapellmeisters Telemanns! Ich erhielte nach wiederholter allerunterthänigsten Vorstellung, meinen Abschied vom Könige, und die Schwester des Königes, der Prinzessinn Amalia von Preussen Hoheit, thaten mir die Gnade, mich zu Höchstdero Kapellmeister bey meiner Abreise zu ernennen. Ich habe zwar, seit meinem Hierseyn wiederum ein paar Mal sehr vortheilhafte Rufe anderswohin gehabt, ich habe sie aber jederzeit abgeschrieben. 1)
Carl Philipp Emanuel Bach dürfte Berlin gerne den Rücken gekehrt haben. Fast dreißig Jahre lang hatte er als Cembalist am Hofe Friedrichs des Großen gedient - und unter einer wenig abwechslungsreichen Tätigkeit, bei obendrein schlechter Bezahlung, gelitten. Wieder und wieder waren dieselben königlichen Flötensoli zu begleiten, während Bachs eigene Werke kaum zum Zuge kamen. Zwar war er in diesen drei Jahrzehnten zu Norddeutschlands unbestritten berühmtesten Komponisten aufgestiegen, aber dies hatte zugleich immer deutlicher werden lassen, wie hoffnungslos der in musikalischen Dingen konservative König mit den kompositorischen Extravaganzen seines Cembalisten überfordert war. Mit der Vocation nach Hamburg, in die Freie und Hansestadt, ergab sich für Bach endlich die Möglichkeit, der Abhängigkeit von höfischem Geschmacksdiktat zu entfliehen in die Freiheit einer bürgerlichen Künstlerexistenz. Zukünftig also würde er sich um die Musik an den fünf Hamburger Hauptkirchen zu kümmern haben. Wenn ihm auch Kirchenmusik und Orgelspiel bisher fern gelegen hatten, wurde dieses notwendige Übel versüßt durch um ein Vielfaches höhere Bezüge als in Berlin. Ohnehin hatten sich die Zeiten geändert: Geistliche Musik war in der Epoche der Aufklärung zunehmend randständig geworden. Für seine Kantaten- und Passionsaufführungen bediente er sich ausgiebig bei Werken Johann Sebastian Bachs und, in noch größerem Umfang, Georg Philipp Telemanns. Gelegentliche Klagen darüber ließen sich leicht abwehren, denn Bach war vertraglich nicht verpflichtet, eigene Kompositionen beizusteuern. Wohl schrieb er in seiner Hamburger Zeit einige große Vokalwerke, verstand sie aber in erster Linie als Musik für den bürgerlichen Konzertsaal - darin viel eher Händel als seinem Vater nacheifernd. Seinem 1769 vollendeten Oratorium Die Israeliten in der Wüste fügt er die Bemerkung hinzu, es könne nicht just bey einer Art von Feyerlickeit, sondern zu allen Zeiten, in und außer der Kirche 2) gespielt werden.
Ungeachtet seiner neuen, eher auf die leichte Schulter genommenen, amtlichen Verpflichtungen bleibt Bach vorrangig ein Komponist von Instrumentalmusik. Wie sein Vater, der in ähnlichem Lebensalter mit den vier auf eigene Kosten gedruckten Teilen seiner Clavirübung - von den sechs Partiten bis hin zu den Goldbergvariationen - die Summe seines Schaffens für Tasteninstrumente zieht, veröffentlicht auch Philipp Emanuel Bach in seiner Hamburger Zeit Werkzyklen, denen deutlich ihr enzyklopädischer Anspruch einer letztgültigen Abhandlung des jeweiligen Genres anzusehen ist: 1772 die Sei Concerti, 1780 die vier Orchestersinfonien mit zwölf obligaten Stimmen und von 1779-86 die sechs Sammlungen Clavier-Sonaten und freye Fantasien, nebst einigen Rondos für Kenner und Liebhaber. In diesem Sinne können die Sei Concerti als Bachs erstes Alterswerk gelten.Endlich können wir den Kennern und Liebhabern der Tonkunst die vollendete Ausgabe der sechs vortrefflichen Flügel-Concerte unsers berühmten Herrn Bach ankündigen, welchen sie schon lange mit einer ungeduldigen Erwartung entgegen gesehen. Sie entsprechen alle sechs der Vorstellung, die wir uns von diesen Meisterstücken eines solchen Clavierspielers, der alle Feinheiten seines Instruments kennet, gemacht haben. Edle Melodie, mit der ausgesuchtesten Harmonie begleitet, und dem Instrument aufs beste angemessen, glänzende Stellen, bey welchen der Spieler seine Geschicklichkeit, und die seinem Instrument eigenen Vorzüge zeigen kann, und dabey doch eine Leichtigkeit, die Herr Bach mit Fleiss für verschiedene Liebhaber hineingebracht... Die Liebhaber können diese Concerte als Soli spielen, da die Hauptmelodie der übrigen Instrumente immer ausgeschrieben ist. Bey einigen Stellen sind auch die Finger angezeigt... Die Cadenzen sind ebenfalls völlig ausgeschrieben... 3)
Instrumentalkonzerte wurden damals nur in seltenen Ausnahmefällen gedruckt, da die Kosten für Stimmensätze eines Orchesterwerks erheblich waren, und ein Virtuosengenre keinen breiten Absatz unter Liebhabern versprach. Bach wagte es dennoch, gleich sechs Concerti auf einmal zu veröffentlichen. Die hindernisreiche Geschichte der Drucklegung bezeugt, mit welchem Nachdruck und Engagement Bach dieses Projekt verfolgte. Schon 1770 hatte er lanciert, dass er sich mit der Komposition von 6 leichten Flügelconcerten4) beschäftige (mit "Flügel" ist in der damaligen Terminologie der Kielflügel, also das Cembalo, gemeint). Ursprünglich sollte das Werk bei seinem Verleger G.F. Winter in Berlin erscheinen. Winter verstarb jedoch während der Drucklegung, und mit dessen Witwe hatte Bach langwährende, unerfreuliche Auseinandersetzungen. Zwischenzeitlich wandte er sich hilfesuchend an den Leipziger Verleger Breitkopf, um schließlich das Werk auf eigene Kosten drucken zu lassen.
Eine so ambitionierte und aufwändige Veröffentlichung musste dem breiten Publikum schmackhaft gemacht werden durch den Hinweis, dass diese Konzerte "leicht" genug seien für den Amateur und sogar eigens für ihn aufbereitet. Dies darf man getrost für Etikettenschwindel halten. Meines Erachtens stellen die Sei Concerti spieltechnisch keine geringeren Anforderungen als andere, nachweislich zum eigenen Gebrauch geschriebene Konzerte Bachs, und die von ihm erwähnte Möglichkeit, die Werke auch als Cembalo-Soli aus dem Klavierauszug zu spielen, stellt allenfalls eine dürftige Notlösung dar. Schon Johann Sebastian Bach hatte seine Clavirübung ... denen Liebhabern zur Gemüths Ergoetzung anempfohlen, obwohl beileibe nicht nur die Goldbergvariationen jeden bloßen Amateur in grandioser Rücksichtslosigkeit überforderten. Noch für Mozart stellt der Druck von Orchesterwerken eine seltene Ausnahme dar, die besonderer Werbemaßnahmen bedarf. Von allen seinen Klavierkonzerten gibt er nur drei, KV 413-15, in den Druck. Auch er setzt auf den Liebhaber als Abnehmer, wenn er wahrheitswidrig behauptet, die Bläserstimmen seien lediglich ad libitum, so dass sich diese Werke auch in kleiner Besetzung zu Hause als Klavierquintette spielen ließen. Wie problematisch es ist, die Zuweisung für Liebhaber unreflektiert als bare Münze zu nehmen, zeigt ein Vergleich der Sei Concerti Philipp Emanuel Bachs mit seinen wenig später (1773) entstandenen Sechs Streichersinfonien Wq 182. über diesen Kompositionsauftrag berichtet Johann Friedrich Reichardt: Bach componirte damals eben für den Baron van Swieten in Wien sechs grosse Orchester-Symphonien, in welchen er sich, nach Swietens Wunsch, ganz gehen liess, ohne auf die Schwierigkeiten Rücksicht zu nehmen, die daraus für die Ausübung nothwendig entstehen mussten.5) Hiernach sollte man erwarten, dass die Sinfonien wesentlich komplexer und schwieriger gearbeitet sind als die leichten Flügelconcerte, was eine genauere Analyse keineswegs bestätigt. Im Gegenteil, beide Opera können in vieler Hinsicht als Schwesterwerke gelten, wobei die Sei Concerti, was die zyklische Form angeht, sogar extravagantere Lösungen bieten als die Streichersinfonien. Nichtsdestoweniger hat das Epitheton "leicht" dazu geführt, dass diese Konzerte selbst in der einschlägigen Fachliteratur zumeist stiefmütterlich behandelt wurden.
Bach hat, soweit ich sehe, in keiner anderen Sammlung eine bestimmte formale Aufgabenstellung so konsequent in allen ihren Facetten durchgespielt wie in den Sei Concerti.
Hier sind alle Sätze in allen sechs Konzerten durch übergänge miteinander verbunden, schließen also attacca aneinander an, so dass ein endgültiger Abschluss immer erst am Ende des letzten Satzes erreicht wird. Dergleichen übergänge finden sich zwar auch in vielen anderen Werken des Komponisten, betreffen aber meist nur zwei von drei Sätzen, und haben vor allem weniger tiefgreifende Auswirkungen auf deren zyklische Gestalt. Im vorliegenden Opus dagegen scheint es, als wolle Bach das theatralische, rhetorische und vor allem formbildende Potential solcher nahtlosen Anschlüsse in einer Reihe von sechs Konzerten abhandeln, die in vielfältiger Weise aufeinander Bezug nehmen, einander kommentieren. Ihre Anordnung ist nicht linear, sondern konzentrisch. Die beiden übersichtlichsten, am klarsten gegliederten Konzerte stehen am Anfang und Ende. Einerseits steht solche Symmetrie noch barocken Gliederungsprinzipien nahe, andrerseits kommt Bach damit dem Liebhaber entgegen, der mit leichterer Kost zumindest empfangen und verabschiedet werden soll.
Das 6. Konzert C-Dur ist offensichtlich als heiterer, unproblematischer Kehraus der ganzen Sammlung konzipiert. In den Brücken zwischen den Sätzen nimmt Bach den Spieler oder Hörer gleichsam an die Hand und führt ihn behutsam von einem Satzcharakter zum nächsten: überleitung im eigentlichen Wortsinn. Am Ende des Allegro di molto zitiert das Cembalo letztmalig das Anfangsmotiv des Hauptthemas, aber harmonisch abgedunkelt, das winterliche Grau des Larghetto vorbereitend. Sehr anrührend ist es, wie an dessen Ende ein gelinder harmonischer Frühlingshauch Tauwetter bringt, aus dem das galante abschließende Allegro hervorgeht - aufblüht, ist man versucht zu sagen. Auch das 1. Konzert in F-Dur ist darauf angelegt, dem Liebhaber nicht allzu viele Rätsel aufzugeben. Dennoch trägt es bereits den Virus in sich, der noch soviel geistreiche Verwirrung stiften wird. Hier verbindet Bach die Sätze auf zwei diametral entgegengesetzte Weisen. Der erste Satz wird um seine letzten (vermutlich fünf) Takte beschnitten, die schon oft gehörte Vorhaltsbildung gis''-a'', bleibt plötzlich auf der Vorhaltsnote angewurzelt stehen; diese wird, für den Hörer allerdings in diesem Moment noch nicht erahnbar, zum as'' umgedeutet, welches zugleich der erste Melodieton des Andante in f-moll ist: Verneinung eines übergangs, abruptio. Die Zeit, um die man hier betrogen wurde, erstattet Bach doppelt und dreifach zurück im rezitativischen, chromatisch sich verlierenden Ausklang des Andante. Immer weiter wird der Beginn des dritten Satzes hinausgezögert. Sein entfesseltes Prestissimo-Tempo wirkt wie die ungeduldige Reaktion auf allzu langes Warten.
Im 2. Konzert D-Dur ereignet sich Unerwartetes schon früh. Das feurige erste Tutti des ersten Satzes gerät am Ende in einen wirbelnden Sog, der auf eine dissonierende Septime zustürzt und abbricht, worauf das Cembalo besänftigend und zart - Andante statt Allegro assai - mit einer luftigen Girlande in der Höhe einsetzt. Befindet man sich hier schon im zweiten Satz, war der erste so kurz? Schon bald jedoch fährt das Allegro assai wieder dazwischen, als ob nichts gewesen wäre - bis an entsprechender Stelle der Reprise eine gleichartige langsame Episode eingeschaltet ist. Auch dem letzten Tutti dieses Satzes ist kein Abschluss beschieden. Auf ähnliche Weise wie schon zweimal zuvor verrennt es sich, überdreht, und landet auf einem schmerzlichen Vorhalt. Wieder setzt ein Andante ein, in e-moll und mit völlig neuem Charakter: eine lastende, gewitterschwere Kantilene, vom ganzen Orchester gespielt. - Nun also beginnt erst wirklich der zweite Satz, und der Hörer glaubt, in den beiden vorausgegangenen Andanti launische Einsprengsel innerhalb eines ansonsten regelhaft verlaufenden Konzert-Allegros zu erkennen. - Die langsame Orchester-Kantilene verklingt nach nur zwei Phrasen melancholisch fragend auf einem Halbschluss. Scheinbar von ganz woanders herkommend, in entrücktem E-Dur, antwortet das Cembalo mit einer anrührenden dolce-Passage, nach melodischer Figuration und harmonischer Bewegung scheinbar doppelt so schnell wie das Vorhergehende. Je länger dieses graziöse Solo sich fortspinnt, desto deutlicher werden Anklänge zu den in den ersten Satz eingefügten Andante-Episoden. - Wiederum müssen wir unsere Sicht auf die Form, auf das Ganze korrigieren: Allegro assai und Andante verschmelzen schließlich zu einem einzigen großen, schnelle und langsame Charaktere parallelführenden Doppelsatz. - Auch im 5. Konzert in G-Dur führt die simple Frage, wieviele Sätze das Stück hat, mitten in Bachs kompositorisches Laboratorium. Es beginnt, für ein Konzert sehr ungewöhnlich, mit einem leisen, idyllischen Orchester-Adagio, auf das sogleich ein vom Cembalo exponiertes Presto folgt. Am Ende dieses Satzes stürmt das Tutti der Quinte entgegen und hält inne. Genau hier liegt der Schlüssel zum Verständnis des Ganzen. Denn was folgt, ist wiederum das stille Adagio vom Beginn, nun allerdings erweitert zu einem ausgewachsenen langsamen Satz, in dem auch der Solisten zu Wort kommt. - Handelt es sich also gar nicht um ein Presto, dem eine langsame Einleitung vorangeht, sondern vielleicht um eine Art Ouvertüren-Form: langsam-schnell-langsam? Diese wäre allerdings asymmetrisch, denn das zweite Adagio ist viel umfangreicher als das erste. Je nachdem, wie man das bisher Gehörte gruppiert und interpretiert, könnte man das ganze Konzert mit etwa gleichem Recht für vier-, drei- oder zweisätzig halten: Adagio//Presto//Adagio//Allegro oder Adagio-Presto//Adagio//Allegro oder Adagio-Presto-Adagio//Allegro; auch Adagio-Presto//Adagio-Allegro erscheint nicht abwegig.
Dies ist keine Haarspalterei, denn in jedem Kunstwerk ist die Beziehung zwischen Detail und Ganzem von zentraler Bedeutung für ästhetische Struktur und Wahrnehmung. Es scheint, als ob Bach mit diesen Konzerten Vexierbilder geben wollte, die uns in jedem Moment unser Hören reflektieren lassen. Musikalische Form hat, wie vielfach bemerkt wurde, Analogie zur architektonischen, aber sie steht nicht von Anfang an erkennbar vor uns, sondern enthüllt ihren Sinn und ihre Proportionen erst im Fortschreiten der Zeit. Es gilt, Vergangenes, schon Gehörtes in seinen Implikationen zu erkennen und daraus Erwartungen abzuleiten, wie Zukünftiges sich entwickeln könnte. In der Transparenz, mit der Bach hier Unordnung schafft, die zuletzt wieder in Ordnung zurückgeführt wird, in der Offenheit und Zugänglichkeit, mit der diese Musik sich selbst erklärt und analysiert, darf man getrost Glücksfälle "rationalistischer" Kompositionskunst erblicken. Reichardts schönes Wort von Bach als dem ernsten Humoristen6) spielt genau darauf an.
Die vielleicht gewagtesten Konzeptionen spart Bach sich für die beiden zentralen Konzerte auf. Im 3. Konzert Es-Dur geschieht etwas, für das ich keine Parallele in der gesamten mir bekannten Musikgeschichte sehe. Der zweite Satz, Larghetto, steht in leuchtendem C-Dur und scheint eine helle Gegenwelt zum dunklen, warmen Es-Dur des Allegro zu verkörpern. Aber schon nach dem ersten Cembalo-Solo passiert etwas Unerhörtes: das Tutti antwortet mit dem Anfangsmotiv des ersten Satzes. Der musikalische Sturm und Drang, darin der Frühromantik durchaus verwandt, bedient sich mitunter des Zitats, das inmitten eines Satzes auf einen anderen, vorausgegangenen verweist. Dies kann mit den unterschiedlichsten Konnotationen einhergehen: nostalgisch erinnernd, menetekelhaft dräuend oder auch entrückt durchscheinend. In jedem Falle geht der Komponist damit ein Wagnis ein, denn er gefährdet Einheit und Logik eines Satzablaufs; es muss also die bedeutungsschwere Ausnahme bleiben. Bach begnügt sich hier allerdings bei weitem nicht mit einer einzigen Bezugnahme. Er setzt einen Erosionsprozess in Gang, in dem allmählich der gesamte Motiv-Vorrat des zweiten Satzes substituiert wird durch Material aus dem ersten, bis am Ende gleichsam nichts mehr übrig ist als seine zarte Empfindsamkeit.7) Wie soll man diesen Vorgang nennen - ein Larghetto, welches vom Allegro träumt? Ein Satz, der von einem anderen angezapft und schließlich ausgesogen wird? In ganz anderer Weise als beim 5. Konzert stellt sich hier wieder die Frage: Handelt es sich überhaupt um zwei getrennte Sätze? Am Anfang des Larghetto: ja, am seinem Ende: nein. Im präzisen Moment, da es sich komplett verflüchtigt hat, fällt ungestüm das Presto ein mit einem Thema, das eigensinnig immer in der "falschen" Tonart einsetzt. Sein allererstes Auftreten ist ein Beispiel für die besonnene Genauigkeit, mit der Bach gerade seine grellsten Kontraste in einen Zusammenhang einbindet, denn der scheinbar falsche Anfangsakkord ergibt sich als logische Fortsetzung der Sequenz, mit der das Larghetto ausklingt. Ein äußerstes an zyklischem Zusammenschluss ist schließlich mit dem 4. Konzert in c-moll erreicht. Ein groß ausgeführtes, dramatisches Allegro assai, in Habitus und Klanggestus zwischen Johann Sebastian Bachs Orgelpathos und Beethovens heroischem Stil angesiedelt, wird etwa in der Mitte auseinander geschnitten, um Raum zu schaffen für zwei längere Episoden - oder sind es Sätze? Nach einer Fortissimo-Kulmination in f-moll setzt mit einem A-Dur-Akkord, also 7 Vorzeichen entfernt, ein wunderbar blasses, wie von der abgewandten Seite des Mondes herüberwehendes Poco Adagio ein. Auf diesen entrücktesten Moment folgt ein sehr bodenständiger, ein humorvolles, burschikoses Menuett. Wenn es sich seinem Ende entgegenneigt, mag man sich fragen, wie solch geradezu zusammenhanglose Verschiedenheit dreier Charaktere jemals zu einer Einheit zu führen sei. In diesem Moment setzt das Allegro assai exakt dort wieder ein, wo es vor dem Adagio abgebrochen hatte. Es mündet in die wohl interessanteste Cembalo-Kadenz aller Konzerte Bachs. Sie lässt die drei Tempo- und Satzcharaktere des Konzerts noch einmal Revue passieren und scheint sich damit genau die Frage zu stellen, die auch uns beschäftigt: ist dieses Werk einsätzig oder viersätzig? Am zutreffendsten wäre es wohl als Fantasie für Solist und Orchester zu beschreiben. Mozarts berühmte Fantasie KV 475, ebenfalls in c-moll, ist ähnlich aufgebaut. Allerdings bietet eine monologische Clavier-Fantasie den angemessenen Rahmen für ausgefallene Experimente. Dass Bach es jedoch wagt, ausgerechnet einem Orchesterwerk eine solche improvisatorische Form zu geben, ist ein weiteres Indiz, wie weit er sich in dieser Sammlung vom Liebhaber-Niveau entfernt. Für vergleichbare zyklische Konzeptionen muss man lange suchen; allenfalls Schuberts Wandererfantasie oder Liszts h-moll-Sonate, viele Generationen später, kämen in Betracht.
In oben zitierter Annonce anlässlich des Erscheinens dieser Konzerte wird eigens darauf hingewiesen, dass - wiederum als Entgegenkommen an die Liebhaber - alle Cadenzen ... völlig ausgeschrieben seien. Für die Konzerte 1-5 trifft dies sicher zu, im ersten Satz des 6. Konzertes dagegen hege ich gewisse Zweifel. Nach 17 Takten eines ausgeschriebenen Cembalo-Solos landet Bach wiederum auf einem Quartsext-Akkord, mit dem üblicherweise Kadenzen erst beginnen, so dass mich der Verdacht beschleicht, Bach könnte hier dem "Kenner" augenzwinkernd zu verstehen gegeben haben: wer Lust verspüre, dürfe seine eigene kleine Improvisation hinzufügen. Angeregt durch Bachs rückschauende Kadenz im 4. Konzert habe ich einen kleinen Strauß Zitate aus den fünf vorangegangenen Concerti zusammengestellt, die den Hörer klingend, und hoffentlich nicht allzu didaktisch, daran erinnern mögen, wie eng diese Sei Concerti zusammenhängen8). - Zwei Sätze, das Allegretto aus dem zweiten und das Menuett aus dem vierten Konzert, fordern Wiederholungen beider Teile. Diese habe ich mit veränderten Reprisen versehen, in Anlehnung an Bachs berühmte gleichnamige Sonatensammlung (Wq 50) von 1760.
Der Druck enthält eine aufschlussreiche Pränumerantenliste. 12 Exemplare gehen nach Riga zu Hartknoch, dem Verleger Immanuel Kants, sechs nach London zu Charles Burney, dem bekannten Musikjournalisten. Darüber hinaus sind so gut wie alle wichtigen Komponisten Norddeutschlands unter den Empfängern: Bach jüngerer Bruder Johann Christoph Friedrich in Bückeburg, Agricola, Fasch, Kirnberger in Berlin, Müthel in Riga. Alle großen Städte des Nordens und Ostens, bis hin nach Kopenhagen, Warschau und St. Petersburg sind mit mehreren Subskribenten vertreten. In den katholischen Süden dagegen gehen ganze drei Exemplare: an Baron v. Dittmer in Wien, Kantor Gebauer in Landshut und Daniel Stockfleet in Cadix. Dittmer jedoch kam ursprünglich aus Schwerin, war lange Zeit im Dienste des herzoglichen Hofes von Mecklenburg-Schwerin tätig und ging dann als Gesandter nach Wien. Stockfleet entstammte einer Hamburger Kaufmannsfamilie,deren Geschäftsverbindungen bis nach Cádiz reichten9) - womit als einziger mutmaßlicher Katholik Gebauer aus Landshut übrigbliebe, über den mir nichts Näheres bekannt ist.10) So liefert diese Liste einen erstaunlichen Beleg dafür, wie eng konfessionelle Prägung und Musikgeschmack zusammenhängen. Der Schriftsteller und Kritiker Friedrich Nicolai berichtet aus der österreichischen Hauptstadt: Zu den größten Kennern der Musik unter den Liebhabern gehört der Herr Reichshofrath von Braun. Er schätzt besonders die Kompositionen des großen Philipp Emanuel Bach. Er hat freylich darinn den zahlreichsten Theil des Publikums zu Wien wider sich. Ich selbst habe manche sonst eifrige und geschickte Liebhaber der Musik in Wien von Bach nicht allein mit Gleichgültigkeit, sondern auch mit innerem Widerwillen sprechen hören.11) Christian Friedrich Daniel Schubart führt die Gründe solcher Aversion an: Was man an seinen Stücken tadelt, ist eigensinniger Geschmack, oft Bizarrerie, gesuchte Schwierigkeit, eigensinniger Notensatz ... und Unbeugsamkeit gegen den Modegeschmack.12) Auf wirklich fruchtbaren Boden fällt Bachs experimentelle Musik in Wien einzig bei Haydn - was dieser jederzeit freimütig bekannt hat. Seine Werke insbesondere zwischen 1760 und 1780 zeigen die intensive Auseinandersetzung mit Bach auf jeder Seite. Mozart begibt sich seltener in kompositorische Nähe Bachs. Neben der bereits erwähnten c-moll-Fantasie wäre hier insbesondere an die Extravaganzen des Jeunehomme/Jenamy-Konzerts KV 271 zu erinnern. Beethoven andrerseits war durch Christian Gottlob Neefe schon in seiner Jugend mit dem Idiom des norddeutschen Sturm und Drang bekannt geworden. Erstaunlicherweise kommt er gerade in seinen Spätwerken, unter geänderten stilistischen Prämissen, auf rhetorisch motivierte Formen zurück, die Bach nahestehen. Die schroffe Gegenüberstellung zweier radikal kontrastierender Charaktere im ersten Satz seiner E-Dur-Sonate op. 109 lässt sich als Konzept leicht von Bach herleiten.
Und dies war es wohl auch eigentlich, was Vater Haydn meinte, wenn, weshalb und worin er ihn (gemeint ist C.Ph.E. Bach) gewissermaßen als seinen Lehrer betrachtete: es war, um es kurz zu sagen, außer der Befreiung des Geistes von Allem, was in der bisherigen Musik feststehende Manier gewesen, die Herrschaft, oder doch das Bürgerrecht der individuellen Eigenthümlichkeiten und wechselnden Stimmungen des Meisters, wo nicht in seiner gesamten Kunst, doch in dem Instrumentenspiel und in den Kompositionen für Instrumente.13)
Ich bin gerührt und beglückt darüber, dass Petra Müllejans und das Freiburger Barockorchester sich nicht nur zu diesem außergewöhnlichen Projekt bereit erklärten, sondern sich von meinem Enthusiasmus anstecken ließen. Allen Beteiligten ein herzliches Dankeschön - es hat mir viel Spaß gemacht!
Nicht weniger herzlich danke ich meinem guten Freund Michael Ladenburger, der uns durch seine Kontakte als Kustos der Sammlungen des Beethovenhauses Bonn half, eine anonyme Wohltäterin für dieses nicht gerade lukrative Projekt zu gewinnen, und sich obendrein selbst finanziell beteiligte. Dies ehrt ihn umso mehr, als er von weit südlich des oben erwähnten musikalisch-konfessionellen Weißwurstäquators stammt, so dass ihn von Haus aus nichts zum Liebhaber Bachscher Musik prädestinierte... Einen großen Dank, last but not least, an die ungenannte Spenderin!
© Andreas Staier, September 2010
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1) C.P.E. Bach, Selbstbiographie, in: Carl Burney's der Musik Doctors Tagebuch seiner Musikalischen Reisen, Bd. 3, Hamburg 1773, S. 200
2) Staats- und gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten, 14.9. 1774
3) Ebenda, 25. Nov. 1772, S. 3f
4) Unterhaltungen10/4, Oktober 1770, zitiert in: Ernst Suchalla, C.P.E. Bach im Spiegel seiner Zeit, Hildesheim 1993, S. 101
5) J.F. Reichardt, Autobiographie, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 12.1.1814, Sp. 29
6) J.F. Reichardt, Autobiographie (Teil 1), in: Allgemeine Musikalische Zeitung XV (1813), Sp. 673
7) Meine eigene Kadenz reicht von (CD2) Track 8/5’57’’ bis 6’39’’. In allen anderen Konzerten spiele ich die notierten Kadenzen von C.Ph.E. Bach.
8) Für die Informationen zu Dittmer (vielleicht auch Dittmar) und Stockfleet danke ich Peter Wollny (Leipzig) herzlich.
9) Vgl. Bayerisches Musiker-Lexikon Online, hrsg. von Josef Focht, http://www.bmlo.lmu.de/g0134 (Version vom 30. September 2007
10) Johann Friedrich Rochlitz, Für Freunde der Tonkunst, Bd. 4, Leipzig 1832, S. 299f.
11) Friedrich Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, Bd. 4, Berlin/Stettin 1784, S. 556
12) Chr.F.D. Schubart, Ideen zu einer ästhetik der Tonkunst, entstanden um 1784/85, publiziert Wien 1806
13) Johann Friedrich Rochlitz, Für Freunde der Tonkunst, Bd. 4, Leipzig 1832, S. 299f.
1723 hatte Johann Sebastian Bach seine Anstellung als Thomaskantor und
Director Musices in Leipzig angetreten. In den Folgejahren widmete er
sich mit schier unfassbarer Energie und Produktivität der Komposition
von Kirchenmusik. Fünf Jahrgänge Kirchenkantaten entstanden,
die den an Umfang und innerem Reichtum bedeutendsten Werk-Korpus der
gesamten abendländischen Musikgeschichte bilden. Nach dieser die
Grenzen des uns Vorstellbaren überschreitenden Leistung trat in
den späteren 1720-er Jahren eine bemerkenswerte Zäsur ein.
Bach wandte sich wieder der Cembalo- und Orgelmusik zu. Zum einen scheint
Bach seine Kantatenproduktion im wesentlichen für abgeschlossen
gehalten zu haben. Alle in diesem Genre denkbaren kontrapunktischen,
formalen, harmonischen und rhetorischen Künste hatte er aufgeboten.
Bis zu seinem Lebensende schrieb Bach Kantaten nur noch vereinzelt und
beschränkte sich meist darauf, in den sonntäglichen Gottesdiensten
ältere Werke wiederaufzuführen. Zum anderen war immer deutlicher
geworden, dass seine Konflikte mit Stadt- und Kirchenobrigkeit selbst
langfristig nicht befriedigend beizulegen waren.
Bach sondierte in die verschiedensten Richtungen, um die ungeliebte
Position in Leipzig mit einer anderen zu vertauschen - wie wir wissen,
ohne Erfolg. Der stolze und streitbare Komponist strebte wieder weg
von Kantorat und Kirche. Teil seiner Strategie war es, seinen Ruf als
Deutschlands größter Tastenvirtuose zu erneuern - über
Leipzig und Mitteldeutschland hinaus. Bisher hatten die allermeisten
seiner Werke nur in Abschriften im Kreise seiner Schüler zirkuliert.
Ab jetzt bediente er sich planvoll der Möglichkeiten des Musikdrucks,
um ein breiteres Publikum anzusprechen. Er veröffentlichte zwischen
1731 und 1742 die vier Teile seiner Clavir-Übung, in denen er das
Fazit seiner Kunst auf Cembalo und Orgel, seinem ureigensten Terrain,
zog. Ganz offensichtlich ging es ihm bei diesem Projekt darum, enzyklopädische
Vielfalt auf letztgültige Weise zu präsentieren und formulieren.
Unter "Clavier" subsumiert man im Deutschland des 18. Jahrhunderts
die Vielzahl der gängigen Tasteninstrumente, und tatsächlich
ist für alle gesorgt, und zwar mit jeweils unterschiedlichen und
typischen Musik-Gattungen. Die sechs Partiten oder Suiten des ersten
Teils können auf einem einmanualigen Cembalo oder auch Clavichord
gespielt werden. Der zweite Teil gibt je ein Beispiel für die typischen
Gattungen der beiden führenden Musiknationen: Zwei imaginäre
Orchesterwerke, ein italienisches Violinkonzert und eine französische
Ouvertüren-Suite, werden für zweimanualiges Cembalo eingerichtet.
Der dritte Teil ist der Orgel gewidmet und besteht aus einer Sammlung
von Choralvorspielen, gefolgt von vier Duetten; beide Gruppen werden
eingerahmt durch Präludium und Fuge in Es-Dur. Den vierten Teil
schließlich bilden die Goldberg-Variationen, die wie der zweite
Teil ein zweimanualiges Cembalo erfordern. Während dort die zwei
Manuale laut und leise, Soli und Tutti imaginärer Orchesterwerke
verdeutlichen sollten, werden sie hier anders eingesetzt: in den virtuosen
Variationen bedient sich Bach der Kunstgriffe und Klangeffekte der "Pièce
croisée", für die François Couperin wunderbare
Beispiele gegeben hatte. Auf zwei Manualen können die Hände,
und damit die Stimmen sich in völliger Unabhängigkeit kreuzen,
über- und untereinander springen. Dies nutzt Bach für die
geistreichsten Spiele mit der Symmetrie von oben und unten, rechts und
links, wie sie auf einem einzigen Manual - also auch auf dem modernen
Flügel! - nicht darstellbar sind.
Notendruck war damals noch kostspielig und aufwändig. Man kann
darüber mutmaßen, ob Bach, hätte er länger gelebt
oder über größere finanzielle Ressourcen verfügt,
nicht auch das Wohltemperirte Clavier und die Kunst der Fuge als fünften
und sechsten Teil der Clavir-Übung herausgegeben hätte. Auch
diese Werke erheben den Anspruch des "so und nicht anders",
des non plus ultra. Hiermit sind die Gemeinsamkeiten benannt, die allen
Clavier-Werken aus Bachs letzten 20 Jahren, seit Erscheinen der sechs
Partiten, zugrunde liegen. Alle treten vor die Welt mit der selbstgewissen
Haltung: Wer glaubt, es mir nachmachen zu können, der versuche
es.
Zugleich dokumentiert sich in ihnen ein allmählicher Wandel in
Bachs musikalischen Prioritäten - der Übergang zu seinem Alters-Stil.
Die Goldberg-Variationen liegen genau an dieser Schwelle. Hatte in den
1730-er Jahren der Akzent auf Vielfalt der Genres und Nationalstile
gelegen, so setzt in den 1740-er Jahren ein Konzentrationsprozess ein,
der wie ein bis in die letzte Konsequenz getriebenes Ergründen
des Wesens von Musik und Kontrapunkt überhaupt erscheint. Bachs
große, spekulative Spätwerke sind allesamt monothematisch.
Sie wollen nicht mehr zusammenfassende und steigernde Überschau
über alle Möglichkeiten und Gattungen der Clavier-Musik geben,
sondern behandeln jeweils eine kompositionstechnische Aufgabe, die in
allen nur denkbaren Facetten durchexerziert wird. Auch hier geht es
um Vielfalt, aber auf einer anderen Ebene: als Kombinationsreichtum
in der Ausarbeitung eines Themas. Bachs letztes Jahrzehnt steht ganz
im Zeichen dieser Vertiefung und Konzentration. Er bedient sich dazu
der Techniken von Variation, Kanon und Fuge. Die aus dieser Haltung
entstehenden Werke ergänzen einander, bauen aufeinander auf, bilden
gleichsam ein einziges magnum opus, beginnend mit den Goldberg-Variationen,
oder in Bachs eigener Titulierung: mit der Aria mit verschiedenen Veränderungen.
Die ersten acht Bassnoten dieser Aria inspirieren Bach zu seinen 14
Canones über die ersteren acht Fundamentalnoten vorheriger Aria.
Werden diese acht Noten zusammen mit ihrer Umkehrung gespielt, ergibt
sich eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Anfang eines der bekanntesten
protestantischen Choräle. Dies bereitet den Boden für die
Canonischen Veränderungen über "Vom Himmel hoch".
Von dort wiederum ist kein weiter Weg zum Musicalischen Opfer und der
Kunst der Fuge.
Die Goldberg-Variationen bilden also den Anfang dieser unvergleichlichen
Reihe Bachscher Alterswerke. Nie vorher und, noch erstaunlicher, nie
nachher ist je ein Variationenzyklus geschrieben worden mit einer Aufführungsdauer
von 80 Minuten. Der varietas wird Rechnung getragen durch eine selbst
bei Bach sonst nicht erreichte Vielfalt an "Charakterstücken",
virtuosen Herausforderungen und Klangeffekten. Nicht genug damit, der
Komponist wagt sich an das scheinbar Unmögliche und schreibt jede
dritte Variation als Kanon, in fortschreitenden Intervallen vom Unisono,
der Prime, bis zur None. Die spezielle Bass- und Harmonie-Progression
der zugrundeliegenden Aria legt allerdings kanonische Imitation nur
in bestimmten Intervall-Abständen nahe, in diesem Falle der Sekunde/Septime/None
sowie der Terz/Sexte. Hingegen ist es fast eine Unmöglichkeit,
über den Bass dieser Aria Kanons in der Quarte und Quinte zu schreiben.
Bach erkennt die exorbitante Schwierigkeit des Problems und findet schließlich
den Schlüssel zur Lösung, indem er diese beiden Kanons als
Umkehrungskanons konzipiert. Dies konnte, so darf man ohne Übertreibung
sagen, auf der ganzen Welt wirklich nur einer:
Johann Sebastian Bach.
"Es ist also
dies das Wertvollste, was wir mit Bachs Musik geerbt haben: die Schau
bis ans Ende der dem Menschen möglichen Vollkommenheit; und die
Erkenntnis des Wegs, der dahin führt: das unentrinnbare, pflichtbewusste
Erledigen des als notwendig Erkannten, das aber, um zur Vollkommenheit
zu gelangen, schließlich über jede Notwendigkeit hinauswachsen
muss."
(Paul Hindemith, Rede auf dem Bachfest in Hamburg, 12.9.1950)
© Andreas Staier 2011
Den theoretischen
Cursus hab' ich vor etlichen Monaten bis zum Canon vollendet ... Sonst
ist Sebastian Bach's Wohltemperiertes Klavier meine Grammatik, und die
beste ohnehin. Die Fugen selbst hab' ich der Reihe nach bis in ihre
feinsten Zweige zergliedert, der Nutzen davon ist groß und wie
von einer moralisch-stärkenden Wirkung auf den ganzen Menschen,
denn Bach war ein Mann - durch und durch; bei ihm gibt's nichts Halbes,
Krankes, ist alles wie für ewige Zeiten geschrieben. (1832)
Eines Abends ging ich nach dem Leipziger Kirchhof, die Ruhestätte
eines Großen aufzusuchen: viele Stunden forschte ich kreuz und
quer - ich fand kein J. S. Bach'.. und als ich den Totengräber
darum fragte, schüttelte er über die Obskurität des Mannes
den Kopf und meinte: Bachs gäb's viele. Auf dem Heimweg nun sagte
ich zu mir: Wie dichterisch waltet hier der Zufall! Damit wir
des vergänglichen Staubes nicht denken sollen, damit kein Bild
des gemeinen Todes aufkomme, hat er die Asche nach allen Gegenden verweht,
und so will ich mir ihn denn auch immer aufrecht an seiner Orgel sitzend
denken im vornehmsten Staat, und unter ihm brauset das Werk, und die
Gemeinde sieht andächtig hinauf und vielleicht auch die Engel herunter.'
(1836)
Ich höre bei meinen jetzigen Compositionen oft auch eine Menge Sachen, die ich kaum andeuten kann, namentlich ist es sonderbar, wie ich fast Alles canonisch erfinde und wie ich nachsingende Stimmen immer erst hinterdrein entdecke, oft auch in Umkehrungen, verkehrten Rhythmen ... (1838)
Die meisten der Bach'schen Fugen sind aber Charakterstücke höchster Art, zum Teil wahrhaft poetische Gebilde, deren jedes eigenen Ausdruck, seine besonderen Lichter und Schatten verlangt. (1838)
Ein anderer Weg aber, vorwärts zu kommen, sich zu neuer Schöpfung zu bereichern, ist der, andere große Individualitäten zu studieren. Man führt wohl Mozart als ein Gegenbeweis dieses Satzes an und sagt, ein Genie habe das nicht nötig und überhaupt nichts; aber wer sagt uns, was Mozart geliefert, wenn er z.B. Sebastian Bach in seiner ganzen Größe gekannt hätte? (1839 )
... das Tiefcombinatorische, Poetische und Humoristische der neueren Musik (hat seinen) Ursprung aber zumeist in Bach. (1840)
Wir wissen wohl von Bach und anderen verwickelt kombinierenden Künstlern, wie sie auf wenige Takte, oft Noten, ganz wundersam gefügte Stücke gegründet, durch die sich jene Anfangslinien in unzähligen Verschlingungen hindurchziehen, von Künstlern, deren inneres Ohr so bewunderungswürdig fein schuf, dass das äußere die Kunst erst mit Hilfe des Auges gewahr wird. (1842)
Was Sie für Zukunftsmusiker halten, das halt' ich für Gegenwartsmusiker, und was Sie für Vergangenheitsmusiker (Bach, Händel, Beethoven) halten, das scheinen mir die besten Zukunftsmusiker. Geistige Schönheit in schönster Form kann ich nie für einen überwundenen Standpunkt' halten. (1854)
Bach ist für Robert Schumann zeitlebens höchste Instanz. Der
junge Autodidakt definiert seinen Begriff von kompositorischer Meisterschaft
nach den Maßstäben, die er bei Bach vorfindet. Von Anfang
an geht es dabei um mehr als polyphone Satztechnik: "Fugen sind
Charakterstücke höchster Art", also auch in der Prägnanz
ihrer Affekt-Darstellung Vorbild für Schumanns romantisches Klavierstück.
Der reife Komponist sucht Zuflucht bei Bach in seinen periodisch wiederkehrenden
psychischen Krisen, er verordnet sich kontrapunktische Studien und Analysen
in der Hoffnung, Inspiration und seelischen Halt zurückzugewinnen.
Schumanns lebenslanges Bemühen um Bach hat also wenig mit Historismus
zu tun. Mozart und Beethoven sind für Schumann verehrungswürdige
Genies der Vergangenheit, Bach jedoch wird ihm immer mehr zu einer allgegenwärtigen
Größe und Herausforderung, zu einem Lebenselexier.
Auf unterschiedlichsten Ebenen erweist Schumann Bach seine Reverenz. Die Kinderszenen op. 15 (1838) sind eingerahmt von zwei Stücken, deren Titel kaum zum Thema "Kindheit" zu passen scheinen: am Anfang Von fremden Ländern und Menschen, am Ende Der Dichter spricht. Der frühe Schumann liebte verborgene Anspielungen, und hier scheint der Umweg über einen seiner Lieblingsschriftsteller, E.T.A. Hoffmann1), zu führen . In dessen Kreisleriana tritt ein "unbekannter, stattlicher Mann" auf, "seltsamlich gebildet und gekleidet", der "von den vielen unbekannten Ländern und sonderbaren Menschen" erzählt. An anderer Stelle wird nahegelegt, dass dieser Fremde J.S. Bach verkörpert, den mythischen Urvater, die "hohe Macht aus einer fremden, fabelhaften Zeit". Die Kinderszenen schildern demnach nicht einfach einen Tag aus der Kindheit, sondern kreisen um das auch in Hoffmanns Kindermärchen zentrale Thema: Rückbesinnung auf die Kindheit als Lebensalter noch unverdorbener Intuition und Phantasie. Hand in Hand damit wird die musikalische Rückbesinnung auf die schon fern liegende Zeit des Barock suggeriert als Weg musikalischer Läuterung, letztlich als Perspektive zu ästhetischem Fortschritt. Schumann gibt diskrete Hinweise auf diesen Bezug, indem er gleich zu Anfang des ersten Stücks "Von fremden Ländern ..." im Tenor das B-A-C-H-Motiv erklingen lässt. Am Ende des Zyklus stimmt "der Dichter" einen Choral an - bachisches Genre par excellence -, den er aber rezitativisch unterbricht: er singt nicht mehr, er "spricht", und auch dies nur zögernd. Dies wird man auch als ein Selbstportrait Schumanns verstehen können, von dem gesagt wurde: "Er sprach meist eben wenig oder gar nicht, selbst wenn er um etwas gefragt wurde, oder doch nur in abgebrochenen Äußerungen, die indes seine Denktätigkeit bei einem anregenden Gegenstande verrieten ... Seine Art zu reden erschien großenteils wie ein Fürsichhinsprechen, umso mehr, da er sein Organ nur schwach und tonlos verwendete." Die letzte melodische Wendung des "Dichters", gis-a-fis-g, stellt sich als transponierter Krebsgang von B-A-C-H heraus.
Das Fragmentarische der kurzen Stücke wird unterstrichen durch ihre vielfältigen Bezüge nach "außen", ihre inhaltliche Unabgeschlossenheit. Schumann spielt mit diesen versteckten Bedeutungen durchaus in der Absicht, uns zu verwirren: Woher sollen wir wissen, ob wir das Wichtigste noch lange nicht aufgespürt haben - oder schon schrankenlos überinterpretieren?
Ein Labyrinth stellt auch das kurze Stück Thema aus dem Album für die Jugend op. 68 (1848) dar. Der Titel lässt ein deutlich gefasstes Sonaten- oder Fugenthema erwarten, doch wird gerade jede fest geprägte Gestalt vermieden. In einem pseudo-polyphonen vierstimmigen Gewebe tauchen kurze Motive auf und wieder unter, jedes Mal anders, alles bleibt im Fluss. Unter der Oberfläche jedoch verbergen sich fast ununterbrochene Anspielungen auf das B-A-C-H-Motiv, allerdings transponiert, permutiert; erst im Schlusstakt erscheint es ein einziges Mal "original" - hervorgehoben durch die Vorschrift "Nach und nach langsamer", versteckt wiederum durch die Aufteilung auf Sopran und Alt: "Thema" als Lebensthema?
Andere Stücke des Albums für die Jugend verweisen auf Bach in pädagogischer Deutlichkeit. Der protestantische Choral "Freue dich, o meine Seele" wird in einfacher und figurierter Version geboten. Ein Choral soll sicher auch im Mittelteil des kryptisch nur mit *** überschriebenen F-Dur Stücks assoziiert werden. Schumanns jüngste Tochter Eugenie berichtet: "Als ich meine Mutter fragte, was wohl die drei kleinen Sternchen ... zu bedeuten hätten, meinte sie mit einem Blick der Liebe: Das sind vielleicht die Gedanken der Eltern über die Kinder.'" Die Kleine Studie verweist auf das 1. Präludium des Wohltemperierten Klaviers, das Kanonische Liedchen teilt mit vielen anderen Werken die Aufgabenstellung, strenge Polyphonie dem persönlichen Idiom Schumanns anzuverwandeln und nutzbar zu machen. Nicht zufällig ist die direkt folgende Nummer dem Andenken Mendelssohns gewidmet, dem Wiedererwecker der Matthäus-Passion und vieler anderer Bach-Werke. Der Untertitel von Erinnerung, nämlich 4. November 1847, bezieht sich auf Mendelssohns Todestag.
Scherzo, Gigue, Romanze und Fughette op. 32 (1838/9) postuliert schon im Titel die Nähe zwischen barocken Satztypen und romantischem Charakterstück. Ironie liegt darin, dass die Gigue eine strengere Fuge darstellt als die impressionistische Fughette. Die Titel der Waldszenen dagegen lassen die barocke Provenienz einzelner Sätze vergessen. Verrufene Stelle und Vogel als Prophet leiten sich unzweifelhaft von der punktierten Französischen Ouverture her.
Sieben Clavierstücke in Fughettenform op. 126 von 1853 stellen Schumanns letzte Beschäftigung mit der Fuge dar. Wiederum suggeriert der Titel, dass Klavierstück und Fuge für Schumann in eins verschmelzen. Wohl auch deshalb basieren die vier langsamen Nummern 1-3, 5 und 7 auf ausgeprägt liedhaften Melodien, die ihre Funktion als Fugenthemen durchaus zu verleugnen scheinen. Obwohl Schumann kontrapunktisch dicht arbeitet, ist er bemüht, dies nie an die Oberfläche dringen zu lassen, um den Eindruck stiller Melancholie nicht zu stören. Immer wieder unterbricht er den gleichmäßigen Fluss durch Stockungen im komplementär-rhythmischen Ablauf. Diese Momente des Energieverlusts, Zögerns, des resignierten Innehaltens sind von ergreifender Wirkung. Die beiden lebhaften Fughetten Nr. 4 und 6 andererseits beginnen zwar fast als barocke Stilkopie, sagen sich allerdings im weiteren Verlauf umso entschiedener von diesem Ursprung los: Nr. 4 gerät zum Marsch, Nr. 6 zur überspitzten Studie in unvorbereiteten Dissonanzen. Diesem op. 126 wurde immer wieder Nachlassen der schöpferischen Kräfte attestiert. Ich finde im Gegenteil, dass dieses Werk einen der seltenen Glücksfälle aus dem 19. Jahrhundert darstellt, in denen Polyphonie ohne jede Pedanterie gehandhabt wird! Wieder fehlt ein Hinweis auf B-A-C-H nicht: In der 3. Fughette erscheint das Namensmotiv gerade dort, wo nach leisem Beginn ein drängendes Crescendo einsetzt.
Ich habe mich von Anfang an dafür entschieden, Schumanns viel diskutierte Metronom-Angabe2 ) zu respektieren - die für alle hier vorgelegten Werke existieren, mit Ausnahme der Nummern 4, 14, 27, 28, 30, 42 aus dem Album für die Jugend. Die Verwirrung über Schumanns Tempi setzte früh ein. Clara veröffentlichte schon 1855, also noch zu Roberts Lebzeiten, in Signale für die musikalische Welt eine Erklärung, in der sie behauptete, sein Metronom sei fehlerhaft gewesen; daher seien alle seine Metronom-Angaben "um vieles schneller, als sie in der Intention des Componisten lagen". Neun Jahre später jedoch nahm sie in derselben Zeitschrift alles wieder zurück - um in ihren Ausgaben der Werke ihres Gatten dennoch viele Metronom-Zahlen teilweise erheblich zu ändern! In keinem Falle kann ein möglicherweise defektes Metronom gewisse Tempo-Eigentümlichkeiten erklären, denn mitunter sind in ein und demselben Werk - die Kinderszenen sind das beste Beispiel - manche Sätze erstaunlich schnell, andere erstaunlich langsam metronomisiert.
Schumanns Musik scheint von sich aus, in ihrer grundsätzlichen Faktur, in einem labilen Verhältnis zum Tempo zu stehen. Die Musik des Barock und der Klassik besaß Tempi ordinari oder giusti, d.h. Satz-Typen, die der erfahrene Musiker auf den ersten Blick erkennen und auf der Tempo-Skala einordnen konnte. Noch für Mendelssohn gilt dies nahezu uneingeschränkt. Schumann aber ist vielleicht der erste Komponist, dessen Stücken man ihr immanentes Zeitmaß, ihren Puls oft nicht mehr ansieht. An seinem Dirigat als Düsseldorfer Musikdirektor bemängelten die Musiker vor allem seine Unzuverlässigkeit im Tempo. Allgemein wird dies heute als Symptom seiner Krankheit gesehen; ich frage mich eher, ob diese Vagheit nicht zutiefst konstituierendes Merkmal seiner Musik ist.
Überdies hat sich Schumanns Tempo-Empfinden im Laufe seiner Schaffenszeit erheblich gewandelt. Den im Allgemeinen recht lebhaften früheren Werken bis etwa 1840 stehen die sehr gemessenen Spätwerke ab 1851 gegenüber - dies wird in vorliegender Einspielung unschwer nachzuvollziehen sein. Für die opp. 32, 68 und 82 lagen meine Vorstellungen ohnehin in der Nähe von Schumanns Vorgaben. Die Kinderszenen stellten mich vor die interessante und lehrreiche Aufgabe, meine Hörgewohnheiten in diesem fast allzu bekannten Werk über den Haufen zu werfen. Inzwischen leuchten mir die originalen Metronom-Zahlen durchaus ein; sie sind dem Fragmentarischen, Sprechenden dieser kurzen Skizzen angemessener als unsere traditionelle, sentimental gedehnte Spielweise - der Hörer urteile selbst ... Großes Kopfzerbrechen bereiteten mir dagegen die allesamt überaus langsamen Fughetten op. 126. Meine spontane Tempo-Wahl lag in einigen Fällen weit über den Angaben Schumanns - nun bin ich allerdings nach eigener Einschätzung ein eher ungeduldiger Spieler ... Während eines Jahres nahm ich die Stücke immer wieder zur Hand, um ihre Langsamkeit zu ergründen. Schließlich habe ich die 6. Fughette hier etwa zwölf Prozent schneller gespielt als von Schumann vorgegeben; bei den anderen Fughetten bin ich für die Themen-Expositionen von seinen Tempi ausgegangen, um im weiteren Verlauf geringfügig flüssiger zu werden.
Obwohl kaum andere Musiker Tagebücher und Korrespondenz in so riesigem Umfang hinterlassen haben wie das Ehepaar Schumann, finden sich überraschend wenige Informationen zu Fragen des Instrumentariums. 1838 äußerte sich Schumann lobend über den Wiener Klavierbauer Conrad Graf, der 1840 Clara und Robert einen Flügel zur Hochzeit schenkte. Später jedoch scheinen sich Schumanns Vorlieben geändert zu haben. 1853 schenkte er seiner Frau einen Flügel der Düsseldorfer Firma Klems, der sich in Mechanik und Korpus eng an die Bauweise der Instrumente von Erard anlehnt. Außerdem ist von Clara Schumann dokumentiert, dass sie auf Konzertreisen immer wieder auf Erard-Instrumenten gespielt hat. Deshalb habe ich mich schließlich für einen Erard-Flügel (Paris 1837) entschieden. Ich danke Edwin Beunk sehr herzlich dafür, dass er mir diesen Flügel aus seiner Sammlung für meine Aufnahme zur Verfügung gestellt, ihn transportiert und betreut hat!
© Andreas Staier
1) Ich referiere hier in rudimentärer Kürze die Argumentation
von Thomas Koenig in seinem Aufsatz: Robert Schumanns Kinderszenen op.
15 (Musik-Konzepte Sonderband Robert Schumann II, Hg. Heinz-Klaus Metzger
und Rainer Riehn, München 1982)
2) Vgl. z.B. Michael Struck: Schumann spielen... (Musik-Konzepte
Sonderband Der späte Schumann, Hg. Ulrich Tadday, München
2006)
Unter allen Cembalobauern ist Hieronymus Albrecht Hass vielleicht der extravaganteste - der einzige, der sogar mehr als 200 Jahre nach seinem Tod noch Skandal erregen konnte. Er lebte von 1689 bis 1752, und in Hamburg baute er 1734 das Cembalo, das mich zu dieser Produktion anregte. Nach dem Original - es steht im Brüsseler Musée Instrumental - haben Anthony Sidey und Frédéric Bal in Paris eine Kopie gebaut, und ihre Fertigstellung ist der freudige Anlass dieses Programms. Niemand ist weiter gegangen als H.A. Hass im Bestreben, dem Cembalo orgelartige Weite und Vielfalt zu geben. Seine Instrumente sind die größten und an Registern reichsten, die vor dem 20. Jahrhundert überhaupt gebaut wurden. Gewisse Ähnlichkeiten in der Disposition weist ein anonymes und vielfach überarbeitetes und verändertes Cembalo der Berliner Sammlung auf, welches lange Zeit fälschlicherweise für das Instrument J. S. Bachs gehalten wurde. Dieses vermeintliche "Bach-Cembalo" genoss natürlich Ikonenstatus und diente bis in die 1970er Jahre all jenen eichenfurnierten Monstren als Vorlage, bei denen mit den Techniken und Rezepten des modernen Klavierbaus versucht wurde, der Ästhetik des Cembalos auf die Schliche zu kommen. Ein vergebliches Bemühen, wie sich letztlich herausstellte. Denn so, wie auch ein Stradivari Herr seines Tuns war, besteht wenig Grund zur Annahme, dass die Tasteninstrumentenbauer seiner Zeit allesamt noch im Neandertal lebten und dringend der modernisierenden "Verbesserung" bedürften. Man besann sich also ab etwa 1960 zunehmend auf die "Originalinstrumente" und ihren möglichst genauen Nachbau. Gleichzeitig verordnete man sich eine Schlankheitskur: Nicht mehr überladene und ohnehin ominöse "Bach-Cembali" waren nun gefragt, sondern die Einfachheit und Kraft der einmanualigen italienischen oder die Subtilität und Eleganz der französischen Instrumente. Hass verfiel dabei der Sippenhaftung. Seine Schöpfungen wurden nun angesehen als "the grotesque result of the barbarous imposition of tonal concepts appropriate to the organ" (F. Hubbard, 1965). Die Annäherung an die Historie verläuft meist im Zickzack: Heute wiederum scheint der Zeitpunkt gekommen, die Welt - zumindest aber mich selbst! - zu beglücken mit einer getreuen Kopie nach H. A. Hass. Hören Sie selbst...
Musikinstrumente werden dort gebaut, wo die Musik spielt. Hamburg, die norddeutsche Orgel- und Cembalometropole, ist eine der großen deutschen Musikstädte - wenn auch gleichsam wider Willen. Stolz war man zuallererst auf den großen Hafen, "Deutschlands Tor zur Welt". Durch ihn war das Bürgertum schon früh wohlhabend geworden, und es ließ sich auch die Kultur einiges kosten. In der erzprotestantischen Stadt eröffnete Deutschlands erstes Opernhaus, und ähnlich wie London Musiker aus ganz Europa anzog, war das reiche und liberale Hamburg attraktiv für viele ihrer deutschen Kollegen, die dem oft entwürdigenden Dienst bei Hofe oder der Borniertheit der Provinz zu entfliehen suchten. Nicht zufällig ging J.S. Bachs erste Reise Richtung Norden, und es lässt sich leicht vorstellen, wie gerne er später das enge Leipzig gegen die weltoffene Freie und Hansestadt eingetauscht hätte.
Bachs Jugendreise galt den berühmten norddeutschen Organisten. Ihr Werk ist zu großartig und ergreifend, als dass ich es hätte übergehen wollen - gerade, wo es hier um die Präsentation eines von der Orgel inspirierten Cembalos geht. Ich erlaube mir also einige Exkurse: ins 17. Jahrhundert (Scheidemann, Weckmann, Reincken) und in die nahe Umgebung, nach Lübeck (Buxtehude) und Lüneburg (Böhm). Was Händel für einige Jahre nach Hamburg zog, war natürlich in erster Linie die Oper. Aber auch er war kein schlechter Tastenvirtuose, wie die einleitende Chaconne belegt. Ihre frühesten Entwürfe gehen auf seine Hamburger Zeit zurück; veröffentlicht hat er sie allerdings erst viel später, 1721 in London. Händels Freund, der bedeutende Musikschriftsteller und unterschätzte Komponist Johann Mattheson, ist hier mit zwei Generalbass-Übungen vertreten, die ich ausgesetzt habe.
Schließlich ist dieses Programm eine Liebeserklärung an Georg Philipp Telemann, den vielleicht geistreichsten, charmantesten und bestgelaunten Komponisten, den es in deutschen Landen bisher gegeben hat. Seine Fröhlichkeit ist ihm von der Nachwelt (Adorno!) fast noch mehr verübelt worden als die Tatsache, dass ihm das Komponieren so unverschämt leicht fiel... Ich hätte ihm allenfalls vorzuwerfen, dass in seinem riesigen Oeuvre der Ertrag an Clavierwerken nicht gerade reich ist. Dies brachte mich dazu, aus zwei seiner Orchestersuiten, die sich programmatisch auf Hamburg beziehen, einige Sätze für Cembalo zu bearbeiten. Hierbei ging mein Spieltrieb bisweilen über meine eigenen zehn Finger hinaus. Zehn weitere - und noch mehr gute Ideen! - steuerte Christine Schornsheim, die Lieblingskollegin, bei und half mir so ein weiteres Mal, eine "Solo"-Aufnahme zu bereichern.
Besonders freut es mich, dass sich Brice Pauset bereiterklärte, dem Cembalo-Neuankömmling eine kleine Entrée auf den Leib zu schreiben. Der Komponist ist wie ich mit den beiden Erbauern gut befreundet. Aus Titel und Kontext des Stückleins dürfte sich die Auswahl der zugrundegelegten Cantus Firmi unschwer erklären...
Lieber Anthony, lieber Frédéric, liebe Christine, lieber Brice: Ich danke Euch von Herzen!
© Andreas
Staier
Juli 2005
mit Werken von Johann Sebastian Bach, C. Ph. E. Bach, Domenico Scarlatti, Joseph Haydn und Jan Ladislav Dussek
"Aus alten Märchen winkt es hervor mit weißer Hand..."
Man
ist nicht mehr der Jüngste. Fotos aus vergangenen Zeiten dokumentieren
den unaufhaltsamen Verlust meines Haupthaars. Und wenn ich mir erst
vergegenwärtige, wieviele Belegschaften wievieler Plattenfirmen
ich inzwischen schon überlebt habe...
Umso dankbarer bin ich, daß es dennoch zu dieser Serie von Wiederveröffentlichungen
kam - passend zu einem runden Geburtstag, dem ich ansonsten mit durchaus
gemischten Gefühlen entgegensehe...
Einige der hier versammelten Aufnahmen muten mich inzwischen an, als
ob sie von jemand ganz anderem gespielt wären. Die "Drey Quartetten"
von C. Ph. E. Bach sind meine erste Aufnahme nach dem Abschied von Musica
Antiqua Köln. Markenzeichen dieses Ensembles waren forsche Tempi
- die sich mitunter weniger aus der Musik erklärten als aus dem
Bestreben, etablierte Hörerwartungen ein weiteres Mal zu erfüllen.
In eigener Regie wollte ich es anders machen. Heute kommt mir vieles,
besonders in den langsamen Sätzen, allzu brav, behäbig und
richtungslos vor. Auch eine gewisse Schüchternheit ist dem späten
Erstling wohl anzuhören. Ich bitte, es mir nicht als Selbstgefälligkeit
auszulegen, wenn ich manche dieser Einspielungen trotzdem wieder vorlege.
Die Mitspieler waren wichtige Gefährten auf meinem Wege, und die
drei Quartette sind nicht nur Schlüsselwerke des Komponisten, sondern
haben mir viel zu denken und zu lernen gegeben über Stil und Satztechnik
im Übergang zwischen Barock und Klassik.
J. S. Bach, Scarlatti und Haydn werden hoffentlich für sich selbst
sprechen, klingen. Auch hier würde ich heute manches anders spielen.
Diese großen Drei werden mich wohl mein Leben lang begleiten und
zu neuen Lösungen auffordern.
Immer
wieder hat es mich zu englischer bzw. in England entstandener Musik
hingezogen. Die Bewohner der Insel haben ja selbst keine hohe Meinung
von ihrer Musikgeschichte - ganz zu Unrecht, wie ich meine. Die Klavierwerke
von Dussek zeigen sogar, daß man in London gegen Ende des 18.
Jahrhunderts ungleich fortschrittlicher und wagemutiger für das
Klavier komponierte als in Wien.
Besonders freut es mich, daß in Kürze auch meine beiden liebsten Kammermusikaufnahmen wieder erhältlich sein werden, nämlich die Quintette von Boccherini und "Delight in Disorder", die Aufnahme englischer Consortmusik mit Pedro Memelsdorff. Ist Musik je charmanter als bei Boccherini gewesen, und wo sind ergreifendere und eigentümlichere Melodien entstanden als im England des 17. Jahrhunderts? Auf verschiedenste Weise steckt in der Consort-Aufnahme viel Herzblut.
Ich danke Frédéric Bal sehr herzlich, daß er drei private Schnappschüsse für das Cover dieser Edition zur Verfügung gestellt hat.
© Andreas Staier
Mozart hat wiederholt gegen willkürliche Ornamentierung seiner Musik protestiert. Wer dürfte sich auch schon zutrauen, den Schöpfungen des Genies noch etwas Eigenes hinzuzufügen? Steht nicht "Klassik" für Vollendung, für Genauigkeit der endgültigen Formulierung? Die Frage ist jedoch auf den zweiten Blick komplizierter, als es zunächst den Anschein hat. Der Kontext von Mozarts Äußerungen zeigt eine Musizierpraxis, die wir uns heute kaum noch vorstellen können. Besonders die gefeierten Operndiven schreckten vor nichts zurück. Das allzeit bereite Sammelsurium ihrer Lieblingsfloskeln gossen sie wie Ketchup über wehrlose und vermeintlich unscheinbare Arien. Wen kümmerte es, wenn dabei Kontur, Charakter und Rhetorik nivelliert wurden, solange nur die goldene Kehle zu ihrem Recht kam. Auch Instrumentalisten betätigten sich gerne als Hobbybastler an der Partitur, nicht selten mit gefährlichen Konsequenzen.
Im Schlechten wie im Guten ist ad libitum-Ornamentierung aus der Musik des 18. Jahrhunderts nicht wegzudenken, und Mozart macht keine Ausnahme. Seine Nähe zur Improvisation belegen nicht zuletzt zahlreiche Werke, die in mehreren Fassungen vorliegen, die sich meist kaum in der Grundidee, wohl aber in der Art und Menge der Auszierungen unterscheiden. Der langsame Satz der hier eingespielten F-Dur-Sonate steht im Autograph in einer einfachen Fassung, während der Erstdruck atemberaubende Fiorituren hinzufügt, von denen man noch nicht einmal mit letzter Sicherheit weiß, ob sie denn überhaupt vom Komponisten selbst stammen. Ich schließe mich hierbei der herrschenden Meinung an: Wer anders als Mozart hätte solche Eleganz und Raffinesse zur Verfügung gehabt? Philologisch ist das ein schwaches Argument, und man wird sich, nicht nur für dieses Adagio, von der Utopie der letztgültigen, eben "klassischen" Fassung verabschieden müssen. Der verspielte erste Satz der C-Dur-Sonate wirkt geradezu wie eine Parodie auf die Vorstellung, alles an klassischer Musik sei in Marmor gemeißeltes "so und nicht anders-Sein". Was der thematische Kern ist, läßt sich gar nicht sagen, denn schon im dritten Takt werden dem Anfangsmotiv ironische Tonwiederholungen hinzugefügt, und in der Reprise lautet es wieder ein wenig anders - aber wirklich nur ein wenig: wer's überhört, verpaßt nichts; wem es auffällt, der wird sein Vergnügen haben an einer geistreichen Pointe.
Übertriebene Manipulationen erregten Mozarts Anstoß, soviel wissen wir. Nur folgt daraus nicht, daß unser heutiges ängstliches Beharren auf dem Notentext, dem "Urtext", seiner Musik den besseren Dienst erweist. Vielleicht fände er unser Spiel öde und langweilig. Vielleicht war er so zimperlich oder apodiktisch eben auch wieder nicht, und was er verteidigte, war nicht die heilige Unantastbarkeit jeder Note, sondern die Integrität seiner Konzeption. Wir sind zu weit entfernt von der Musizierpraxis des 18. Jahrhunderts, um noch beurteilen zu können, was für Mozart zuviel oder zuwenig an Verzierungen bedeutet haben mag. In keinem Falle können wir uns auf unser heutiges "spontanes" ästhetisches Sensorium verlassen, das wohl immer noch stärker durch die Neue Sachlichkeit - "Ornament ist Verbrechen"- geprägt ist, als wir uns eingestehen.
Wenn die Beantwortung dieser Fragen an unserer Ignoranz scheitert, so gibt es darüber hinaus noch weitere, die prinzipiell unbeantwortbar sind. Das musikalische "Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" stellt uns, gerade was Verzierungen angeht, vor unlösbare Probleme. Veränderungen finden insbesondere in Wiederholungen statt. Deren Bedeutung aber hat sich grundsätzlich geändert durch die Wiederabrufbarkeit eines Werkes auf Tonträgern. War der Zuhörer früher insbesondere bei anspruchsvoller sinfonischer Musik schon deshalb für jede Wiederholung dankbar, weil er bei bestimmten Werken nur ein einziges Mal in seinem Leben die Gelegenheit hatte, sie in einer Aufführung zu hören, so entfällt diese Notwendigkeit heute. Unabhängig davon sind viele Wiederholungen unverzichtbar für die Proportion eines Stückes - nur welche im speziellen Fall, darüber gehen die Meinungen der Interpreten weit auseinander.
Der Reiz aller Verzierung liegt gerade darin, daß es jedes Mal auch anders sein könnte. Fixiert man nun eine Ornamentationsidee auf CD, wird sie allein dadurch schon ad absurdum geführt. Dem Hörer wird zugemutet, sich dieselbe Version wieder und wieder anzuhören. Aber ist das ein Argument für völlige Enthaltsamkeit? Und was tun mit einem Satz wie dem Türkischen Marsch? Er ist nachgerade omnipräsent zwischen Acapulco und Tokyo, und wir wissen nicht mehr zu sagen, ob er uns eigentlich noch gefällt. Wir kennen ihn soviel besser, als uns lieb ist, und assoziieren langweilige Hotellobbys oder Warteschlangen am check-in. Vermutlich wäre Mozart angesichts des weltweiten Siegeszugs seines kleinen folkloristischen Kabinettstücks ebenso schockiert wie geschmeichelt gewesen. Wie hätte er in seinem Spiel darauf reagiert? - Ich habe mir einen eigenen Kommentar erlaubt...
© Andreas Staier 2004